Steinzeit-Höhle Obere Klause im Altmühltal, Bayern Kurt Scheuerer - Materialsammlung zur Mythologie
Daimones
metaphysische Wirksamkeiten

 
"Hat Dich ein Daimon geleitet?" - wurde der Sohn des Odysseus gefragt, als er - unbeschadet eines geplanten Mordanschlages - heimgekehrt war.

Olympische Götter

Noch im 8. Jh. v. Chr. war der Glaube an unkörperliche und unpersönliche Wirksamkeiten in den Menschen gegenwärtig. Also in einer Zeit, in welcher man sich der menschlichen Verhaltensweise der - damals längst personifizierten - Olympier durchaus bewusst war. Volkstümliche Erzählungen rankten sich um diese in einer Welt jenseits des Körperlichen gedachten und als machtvoll empfundenen Personen.
Als himmlischen Regenten mit seinem Hofstaat stellte man sich Zeus nun vor. Ganz so, wie man es von den Stadt-Königen der damaligen Zeit her kannte. Schwächen und Fehlverhalten der Menschen wurden in bespielhaften Geschichten auf die Jenseitigen übertragen. Die von Sängern vorgetragenen Sagen und Mythen sollten in der schriftlosen Zeit den Menschen psychologische Grundkenntnisse vermitteln und sie zum Zusammenleben in der Gemeinschaft befähigen. Gemeinsame Opfer förderten den Zusammenhalt der Gemeinschaft.
Ihre Jenseitigen waren den Menschen stets gegenwärtig. Die physische und die metaphysische Welt stellte eine in sich verwobene Einheit dar. Die griechischen Philosophen beendeten ab 600 v.Chr. diese Grundhaltung des Lebens. Das Diesseitige und das Jenseitige wurde rational erklärt.

Was kommt nach dem Tod?

Im Menschen verstärkte sich der Wunsch, auch über seine Existenz nach dem Tode Genaueres zu erfahren. Begierig wurden alle neuen Religionen aufgenommen, die darüber Auskunft zu geben versprachen: Die Verehrung von Orpheus, Dionysos, Demeter-Kore (in Eleusis), Kybele-Attis, Isis-Osiris, Mithras.
Zuletzt verdrängte das Christentum, welches sich an alle Schichten der Bevölkerung wandte, die bisherigen religiösen Vorstellungen. Nicht nur die Reichen und Erfolgreichen, sondern auch die Armen, die Behinderten und die Sklaven konnten im jenseitigen Leben Erfüllung erhoffen.
Es mag nicht verwundern, dass gerade das Christentum sich im keltisch-germanischen Bereich so schnell und ohne größeren Widerstand ausbreitete. Gerade seine Jenseitsvorstellungen entsprachen doch weitgehend dem, was wir durch die mittel- und nordeuropäischen Sagen überliefert bekamen:
Die Persönlichkeit des Menschen - sein Ich - endet nicht mit dessen Tod. Dieser ist lediglich ein Übergang in eine neue Form der Existenz.
Gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. hatte sich in Europa die Sitte der Totenverbrennung ausgebreitet. Es ist gut denkbar, dass dieses in Zusammenhang mit einer geänderten Vorstellung vom jenseitigen Zustand des Menschen steht: Die Transformation in den metaphysischen Zustand könnte durch die Auflösung des physischen Leibes begünstigt werden.

Die Hallen der Asen

Die nordeuropäische Bevölkerung - von den Römern mit dem Sammelbegriff "Germanen" bezeichnet - war in überschaubare Stammesverbände gegliedert. Kleinere Gruppierungen trafen sich mindestens jährlich an zentralen Plätzen, um sich zu beraten.
Dieses hatte sich offenbar auch auf die Vorstellungen vom Aufbau der Jenseitswelt übertragen. Die Asen, welche sich praktisch kaum von den Olympiern unterschieden, bewohnten große Hallen, in welchen sie ihre Gefolgschaft und ihre Gäste bewirteten.
Der soziale Zusammenhang war durch eine enge Verflechtung von Fürsorge und Treue gewährleistet, was sich auch im mittelalterlichen Lehensprinzip niedergeschlagen hatte.
Freudig wurden die Verstorbenen - nach ihren Verdiensten - willkommen geheißen. Wotan erwählte sich die Einzelkämpfer, Hel sorgte sich um die vom Leben weniger begünstigten.
Nur Mörder und Schänder erfuhren nirgens Aufnahme. Ihre irdische Strafe war der Ausschluss aus dem gesamten Leben der Gemeinschaft gewesen. Eine um so härtere Strafe, da dieser sich ja auch auf die Gemeinschaft der Anderswelt erstreckte.
Hels Halle lag unterhalb der Erde. Sie entsprach damit wohl auch den hölzernen Grabkammern, in welche man (im Neolithikum und dann wieder im Frühmittelalter) die Toten bestattet hatte.

Vom Wesen der Vanen

Offenbar älter als die Asen waren die Vanen. Einige von ihnen hatten - nach einem Krieg, welcher an die Verbannung der Titanen durch die Olympier erinnert - bei den Asen Aufnahme gefunden.

Am Ausführlichsten ist uns hier ein Geschwisterpaar überliefert: Freyr und Freyja.
Ihre Wirkungsbereiche erstrecken sich hauptsächlich auf die Natur und deren Bewirtschaftung.
Ich vermute in ihnen daher die metaphysischen Wirksamkeiten des Grünens und Blühens, des Reifens und der Ernte.
Die altrömische Venus wurde als der Daimon der Frühlingsblüte in den Gärten angesehen. Erst durch Überlagerung durch die griechische Aphrodite wurde sie zu der Gestalt, wie wir sie seit der Renaissance kennen.
Aphrodite ihrerseits ist wohl aus Charis, der Schönheit und Anmut der Natur hervorgegangen und erst später durch die orientalische Astarte überdeckt worden.
Artemis ist die Beschützerin der unberührten Natur, die Herrin der Berge und Wälder.
Es scheint also wohl einmal in ferner Vorzeit eine europäische Wirksamkeit gegeben zu haben, welche die ursprünglichen Eigenschaften von Artemis, Charis, Venus und Freyja besessen hat. Leider finde ich im keltischen Bereich vorerst noch keine Entsprechung zu dieser.

Auch in Bezug auf ihren Bruder Freyr bin ich in anderen Mythologien noch nicht schlüssig fündig geworden. Es könnte sein, dass es sich bei ihm um eine der - in der antiken Mythologie so häufigen - Aufspaltungen einer Gottheit in zwei Einzelgottheiten handelt. Das Geschwisterpaar könnte einmal eine einzige Wirksamkeit gewesen sein. Andererseits kann man sich auch gut ein solches Paar als schon ursprünglich in Blüte und Ernte aufgeteilt vorstellen. Einem Landwirtschaft treibenden Volk könnte das Heranwachsen und Gedeihen, das Reifen und Ernten sehr wohl als vereinte Zweiheit erschienen sein.

Der Daimon der Wege, der Beschützer der Wanderer, das ist Hermes. Sein Name kommt von dem Steinhaufen, den die Wandernden im Laufe der Zeit im Vorbeigehen aufgeschichtet haben. Zusammen mit Zeus gewährleistet er die Gastfreundschaft. Schnell überwindet er mit seinen geflügelten Schuhen große Entfernungen. Alles dies läßt auf eine Gleichsetzung mit Wodan schließen, was auch durch die römische Interpretation Wotan = Mercurius bestätigt wird.

Fasst man die Riesen der nordeuropäischen Mythologie als die Daimones des unbequemen Wetters auf - Sturmriesen, Eisriesen, Reifriesen -, so kann man als ihren Gegenspieler den, sie vertreibenden blauen Himmel ansehen.
Heute wissen wir, dass der Wind eines Hochdruckgebietes die Wolken wegfegt. Blicken wir jedoch unvorgebildet nach oben, so erkennen wir deutlich, dass der klare Himmel die Wolken vertreibt.
Wer könnte das gewesen sein? Ich denke hier an Balder. Er wird einmal als "der Strahlende" bezeichnet. Einen eigentlichen Sonnengott, wie er in babylonisch-griechischen Vorstellungen - und den dortigen Klimaverhältnissen - vorkommt, gibt es in den nordeuropäischen Religionen offenbar nicht. Das wird zwar vielfach vermutet, ein eindeutiger Nachweis läßt sich jedoch meines Erachtens nicht erbringen.
Im Keltischen werden zwar Belenus und Lug genannt, ich möchte aber nun einmal eine "Wirksamkeit des strahlend blauen Himmels" postulieren, die ich vorläufig ganz vorsichtig mit Balder, Lug und Belenus in Beziehung setze, obwohl ich hierbei auch noch gerne an Freyr denken möchte.
Ob beim altrömischen Sol eine solche Beziehung vorliegt, kann ich nicht sagen, da dieser schon seit früher Zeit mit der Sonne gleichgesetzt worden ist.

Verwirrend erscheint in dieser Beziehung das Auftreten von offenbar eindeutigen Sonnen- und Mondsymbolen in der süddeutschen Bronzezeit. Der Goldkegel, der im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg aufbewahrt wird, zeigt derartige. Ebenfalls die Scheibenfibel der frühen Urnenfelderzeit um 1000 v.Chr. aus Ilmendorf in Bayern.
Aber auch hier könnte dieses Zeichen durchaus auch für das Strahlen des schönen Wetters gemeint sein. Aus den schriftlichen Quellen ist eben keine Sonnenverehrung zu entnehmen. Und dieses veranlasst mich zu der obigen Annahme, welche natürlich erst noch einer Diskussion bedarf.
Ich bitte hierum.

Kurt Scheuerer - 1998


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